Yasemin Acar, eine Berliner Palästina-Aktivistin, ist heiser. Aber sie schreit immer noch. „Wo sind denn eure Frauen, die angeblich vergewaltigt wurden?“, ruft sie einer kleinen Gruppe von Menschen zu, die blauweiße Fahnen mit Davidsternen tragen und sich an einer Kreuzberger Straßenecke postiert haben. Gerade ist eine propalästinensische Kundgebung durchs Viertel gezogen. Acar arbeitet sich an den Gegendemonstranten ab. „Ihr seid keine Menschen!“, zetert sie. „Ihr seid Rassisten!“ Irgendwann wird sie von Polizisten weggeführt.
Die Israelunterstützer machen sich über die Anwürfe lustig. Aber in manchen arbeitet der Frust. Frust darüber, dass sie so wenige sind, dass viele Repräsentanten des Politikbetriebs zwar die Hamas verurteilen, sich aus enervierenden Kämpfen an den Universitäten oder auf den Straßen heraushalten. Frust darüber, dass Deutsche finden, jetzt müsse auch mal gut sein mit dem Blutvergießen in Gaza, und die Israel selbstverständlich die Schuld an dem Krieg geben. Frust über Nichtjuden, die immer schon Vorbehalte gegenüber Juden hatten. Die die postkoloniale Dämonisierung Israels ganz okay finden, selbst wenn ihr Wissen über den Mittleren Osten und seine Geschichte überschaubar ist. Die es nicht so recht glauben wollen, wenn von physischer Gewalt gegen jüdische Studierende berichtet wird.
Hat das nicht alles Netanjahu inszeniert?
Im Schatten der lautstarken Palli-Proteste sickern kleine und größere Gehässigkeiten in die Denke der Wohnzimmer-Kommentatoren. Könnte es nicht sein, dass der israelische Premier Netanjahu das Pogrom vom 7. Oktober selbst inszeniert haben, fragt die Pressesprecherin einer großen Gewerkschaft im persönlichen Austausch. Es sei doch wohl klar, dass die israelische Armee selbst massenhaft vergewaltige, ist auf einem Ausflug des Deutschen Alpenvereins zu hören. Und überhaupt, müsse man nicht immer auch die andere Seite sehen, sprich, die Sicht der Hamas? Menschen, die noch zu Corona-Zeiten zwischen Fake News und Fakten unterscheiden konnten, bedienen sich jetzt unbefangen aus dem reichen Angebot antiisraelischer Verschwörungsmythen, die Telegram, X, Tiktok und Instagram liefern.
Auf der anderen Seite ist ein breites Biotop an jüdischen Rückzugsräumen entstanden. In zahllosen Online-Gruppen und in lokalen Gesprächskreise sortieren Jüdinnen und Juden ihre Kontakte neu. Untereinander beschreiben Menschen ihre Fassungslosigkeit gegenüber einer deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sie als ignorant empfinden, oft auch als feindselig. „Ich arbeite kaum noch für meine Forschung“, gesteht eine jüdische Wissenschaftlerin, die Stunden damit verbringt, sich die Sorgen jüdischer Studentinnen und Studenten anzuhören.
Am Shabbes in die Synagoge, selbst wenn man nicht religiös ist
Während für die meisten nichtjüdischen Deutschen der Krieg in Nahost auf dem Fernseher stattfindet, haben Juden oft Verwandte in Israel, fürchten um Familienmitglieder, die zur Armee eingezogen wurden. Das Nichtwissen und das Desinteresse ihrer nichtjüdischen Alltagskontakte schmerzt. „Kein einziger NIchtjude aus meinem Bekanntenkreis hat mich nach dem 7. Oktober gefragt, wie es mir geht“, sagt Simon, 66, auch er im akademischen Bereich tätig. Er glaubt nicht an Gott, kümmert sich nicht um die Speisegesetze. Über viele Jahre hinweg nahm er an den Treffen einer Gruppe linker Akademiker ein. Jetzt hält er die israelfeindliche Haltung der Salonsozialisten nicht mehr aus, hat den Kontakt abgebrochen. Stattdessen geht er am Samstagmorgen in die Synagoge.
„Desintegriert euch“, forderte der Autor Max Czollek 2018 von deutschen Jüdinnen und Juden. Es sei ihnen nicht zuzumuten, in der ritualisierten Kultur des deutschen Shoa-Gedenkens ihren Part zu übernehmen. Manche Juden empfanden seine Polemik als wenig hilfreich, zum Teil sogar als lifestyliges Opfergetue. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats, konstatierte öffentlich, Czollek sei kein Jude. Heute folgen deutsche Juden in gewisser Weise Czolleks Rat, selbst wenn sie sein Buch nicht gelesen haben. Sie treten nicht so selbstbewusst auf, wie Czollek das verlangte. Aber sie desintegrieren sich, ziehen sich zurück. Ihre selbstgewählten Ghettos sind komfortabel, gut abgesichert, vielfach unterhaltsam. Mit der Idee eines lebendigen Judentums mitten in Deutschland haben sie nicht mehr viel zu tun.