Dieselgate, ein Ausrutscher? Über das Beziehungsgeflecht zwischen Pkw-Industrie und Politik
Das Schreiben des Deutsche Caravaning-Verbandes CIVD an Ekhard Zinke, den Präsidenten des Kraftfahrt-Bundesamts KBA, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. “Die aktuelle Situation ist untragbar”, heißt es in einem Fax vom vergangenen Jahr. Nachdem das KBA die Anforderungen an Typgenehmigungen für Wohmobile auf Basis des Fiat Ducato verschärft habe, seien die deutschen Hersteller in der Existenz bedroht. Denn der Verkauf von über 11 000 Fahrzeuge, die allein 2016 noch gebaut würden, sei gefährdet. Der Verband fordert eine ihm genehme Antwort innerhalb von fünf Tagen, andernfalls drohten juristische Schritte.
Im Kraftfahrt-Bundesamt sind sie solche harschen Töne eigentlich nicht gewohnt. Die 900-Mitarbeiter-Behörde im Flensburger Stadtteil Mürwik freut sich über das maritiime Flair der Region und den Blick auf die Förde. Die Beschäftigten haben große Spielräume bei der flexiblen Gestaltung ihrer Arbeitszeit, im täglichen Mailverkehr ist der Ton verbindlich-kumpelhaft. Jetzt aber reagiert ein leitender Staatsdiener gereizt: “Das Schreiben des CIVD wundert mich hier schon”, rügt er in einer Mail an seine Kollegen. Habe er nicht bereits festgestellt, dass dem Ansinnen des Industrieverbandes nachzukommen sei?
Der Fiat Ducato ist zuvor durch exorbitante Stickoxid-Werte aufgefallen, der Verdacht auf den Einsatz von Schummelsoftware drängte sich auf. Doch das Auto hat seine Zulassung in Italien bekommen, und die Regierung in Rom sieht keine Veranlassung, tätig zu werden. Deswegen wagen auch die Staatsdienern in Flensburg nach dem Fax nicht, die Zulassung der Dreckschleudern in Deutschland zu verweigern. Nach einer “Lagebesprechung” wird festgehalten, das KBA habe zu einem “rechtmäßigen Verfahren” zurückzukehren – sprich: die Genehmigungen zu erteilen. „Unsere direkte Durchsetzungsmacht ist sehr limitiert, um nicht zu sagen, nicht existent“, wird eine Sprecherin der EU-Kommission die Untätigkeit der europäischen Behörden ein paar Monate später erklären.
Deutschland, Januar 2017: Dieselgate ist seit einem Jahr bekannt, aber hat sich wirklich etwas geändert? Gegen den früheren VW-Chef Martin Winterkorn läuft ein Ermittlungsverfahren, in den USA sitzt der erste Manager des Konzerns in Haft. Neu ausgelieferte Autos des VW-Konzerns fahren ohne Defeat Device. Auch gegen Fiat Chrysler ermittelt die US-Umweltbehörde EPA. Aber bei uns funktionieren die altbewährten Reflexe im Umgang zwischen Autoindustrie, Politik und Verwaltung funktionieren: Drohen, mauscheln, wegschauen und wennötig vertuschen.
Autofahren, das ist weit mehr als eine Möglichkeit, um von A nach B zu kommen. Über ihre Autos definieren Nationen Lebensstandard, Nationalstolz und Lifestyle. Zwischen Parteien, Konzernen und Gewerkschaften werden Seilschaften geknüpft und Strategien entworfen. Wer ein Industrieland regiert, kann sich nicht gegen die Autobauer stellen. Und immer haben technologische Fragen der Mobilität eine politische Dimension.
Diesel – ein Kraftstoff und ein politsches Programm
Eine besonders wechselvolle Karriere erlebt der Diesel, jener Treibstoff, der jetzt VW zu einem gigantischen Sparprogramm und dem Abbau von mindestens 30 000 Arbeitsplätzen zwingt. Der Potsdamer Historiker Christopher Neumaier hat untersucht, wie es kam, dass der Diesel in Europa so stark wurde, während er in den USA ein Nischendasein führt. Eine wirklich logische Erklärung fand er nicht. Die öffentliche Diskussion über die Treibstoffe folgte Moden, Zufällen und politischem Kalkül. Der Boom des Treibstoffs in Europa gründete auf eine Koalition von Regierenden und Industriemanagern, die im Rückblick befremdlich wirkt, zum Teil auch kurios.
Der US-Autor John Irving lässt eine seine Hauptfiguren in seinem Roman “Hotel New Hampshire” nach dem Krieg die diesellastige Luft des alten Kontinents schnuppern. Für Amerikaner damals ein befremdliches Erlebnis, denn war Diesel nicht der angemessene Treibstoff für Lkw und Traktoren? Nicht besonders spritzig, mit dunklen Abgasen und Startproblemen bei niedrigen Temperaturen – der Marktanteil von Dieselantrieben bei Pkw beibt auch in Deutschland bis Anfang der 1970er Jahre unter 10 Prozent.
Allerdings macht die zunehmende Luftverschmutzung vor allem den Städten zu schaffen, der Ruf nach sparsameren Motoren wird laut. Die Ölkrise 1973 ändert schließlich alles: Nach dem Yom-Kippur-Krieg verhängte die Organisation erdölexportierender Länder Opec einen Lieferstopp gegen ihre wichtigsten westlichen Abnehmerländer. Bundeskanzler Helmut Schmidt verhängt an vier Sonntagen Fahrverbote, die Autonation findet sich spazierengehend auf ihren Schnellstraßen wieder. Ein Schock. Der Fortschrittsglaube der 50er und 60er Jahre ist gebrochen. Verzicht auf individuelle Mobilität will kein Politiker fordern. Was jetzt?
Die Arbeitslosigkeit steigt in den 70ern erstmals seit dem Krieg spürbar. Allein deswegen verbietet es sich für sozialliberale Regierung, die Autoindustrie einzubremsen. Zum Glück gibt es neue, sparsame Dieselmodelle. Die Mär vom Diesel als “vernünftigem” Kraftstoff übersteht etliche Experten-Berechnungen, in denen nachgewiesen wird, dass der höhere Kaufpreis der Fahrzeuge nur durch überdurchschnittliche Laufleistungen hereingeholt werden kann, dass also viele Diesel-Käufer draufzahlen. Der Diesel sei eine “krisensichere Geldanlage, immun gegen die Drohgebärden Ölscheichs, ausgleichend gegen den Druck der staatlichen Steuerschraube und geschont bei den Preiserhöhungen der Ölkonzerne” heißt es 1981 in der deutschen “Auto Motor und Sport”.
In den Vereinigten Staaten gilt der sparsame Umgang mit Energie auf einmal als Ausdruck von Patriotismus. “Es gibt nur einen Weg, die Araber in dem Ölkrieg, den sie uns erklärt haben, zu schlagen”, schreibt die Autozeitschrift “Car and Driver”. “Wir müssen sie mit Energieeffizienz bekämpfen. Lass sie ihr schleimiges schwarzes Zeug behalten.” Und die Dieseltechnologie ist in den Augen der Motorjournalisten ein Weg, den Verbrauch zu drücken. “Dieselmotoren sind ein wichtiger Bestandteil unserer Energiepolitik”, verkünden 1980 die Berater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter.
Aber alle – Politiker, Industriebosse, Beamte – wissen, dass das nicht reicht, dass unregulierter Verbrauch nicht mit dem Anspruch der Unabhängigkeit und dem Umweltschutz zu vereinbaren ist.
Zwischen den Konzerne und der Politik beginnt das Zocken um Grenzwerte. Deutsche Autobauer zahlen in den USA regelmäßig Bußen für die Überschreitung von Flottenverbräuchen. Mal sind es ein paar Hunderttausend Dollar pro Jahr, mal auch zweistellige Millionenbeträge dafür, dass die Autos im Schnitt mehr schlucken, als die US-Bundesbehörde für Straßen- und Fahrzeugsicherheit NHTSA den Herstellern zubilligt. Europäische Hersteller werden stärker zur Kasse gebeten als amerikanische, vor allem, weil sie relativ hoch motorisierte Pkw in die USA verkaufen, und auch deswegen, weil für die in den USA beliebten Pick Ups andere Grenzwerte gelten als für andere Pkw.
Was scheren die Hersteller schon Bußgelder
Die europäischen Hersteller scheinen die Bußgelder nicht sonderlich zu beeindrucken – vermutlich deswegen, weil es die Öffentlichkeit in den USA anders als in Europa nicht wirklich interessiert, wer wie viel an die Behörden überweisen muss. Und ein paar Millionen Dollar spielen bei den Umsätzen, die der US-Markt ermöglicht, keine wirklich große Rolle.
Diffiziler ist die Sache mit den Stickoxiden und Partikeln. In den Vereinigten Staaten tauchen frühzeitig Untersuchungen über die krebserregende Wirkung der Diesel-Abgase auf. General Motors und andere Hersteller erreichen mit Interventionen bei der Regierung zwar für einige Jahre, das Dieselmotoren trotzdem mehr Stickoxide ausstoßen dürfen, als vorsichtige Experten empfehlen. Doch die krebserregende Wirkung von Partikeln aus Dieselmotoren wird lang und breit in den Medien diskutiert. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die Gesundheit der Bürger zu riskieren, senkt die Umweltbehörde EPA (anders als die europäischen Umweltbehörden) die Grenzwerke schließlich doch.
Eine technische Herausforderung für die Entwickler von Motoren, aber keine unüberwindbare Hürde. Wer niedrige Emissionen will, muss ein wenig mehr technischen Aufwand treiben. Ein wirklich gravierendes Problem ist das eigentlich nur für Volkswagen, das seine Kosten nicht im Griff hat.
Volkswagen, das ist die Firma gewordene Nachkriegsrepublik. Eine dunkle Vergangenheit als industrieller Vorzeigebetrieb Nazideutschlands. Hitlers “Volksauto”, für das das VW-Stammwerk gegründet wurde, versprach individuelle Mobilität für den kleinen Mann, doch gebaut wurden dort vor allem “Kübelwagen” für den Krieg. Nach 1945 der Neustart mit Gewerkschaftsvermögen und dem festen Vorsatz, jetzt alles besser zu machen. Dafür stehen die Sperrminorität des Landes Niedersachsen und die Mitspracherechte des Betriebsrates.
Die Politik und die IG Metall entscheiden über Standorte und Manager-Karrieren. Ferdinand Piech hätte VW nicht über Jahrzehnte steuern können, hätten ihn nicht 1993 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder und IG-Metall-Chef Franz Steinkühler nach Wolfsburg geholt. Wer es im Konzern zu etwas bringen will, sollte sich mit der Gewerkschaft gut stellen, am besten noch Mitglied werden.
In Wolfsburg und bei den VW-Töchtern Audi und Porsche zählt Politik manchmal mehr als Ingenieurwissen. Man könnte auch sagen: Es wird zuweilen von oben nach unten durchregiert. Und wenn sich die Wirklichkeit nicht ins Bild der Entscheider fügt, wird sie eben zurechtgebogen.
Dafür wiederum brauchen die Bosse den Einfallsreichtum ihrer Techniker. Die tüfteln Ende der 90er bei Audi an der Optimierung des Diesel-Motorengeräuschs bei niedrigen Drehzahlen. Das akustische Make Up funktioniert, führt aber zu höheren Stickoxid-Werten. Deswegen programmieren die Techniker die Software so, dass sie erkennt, wenn das Auto auf dem Prüfstand steht und in den anfänglichen Modus zurückschaltet.
Der Sündenfall. Niemand scheint wegen der offenkundigen Rechtswidrigkeit des Defeat Device intern Alarm zu schlagen oder einen Hinweis an die Aufsichtsbehörden zu geben. 20 Jahre später wird Konzernchef Matthias Müller auf der Automesse in Detroit, umringt von Reportern, fahrig und unfreiwillig ehrlich Auskunft geben: “Nein, wir haben nicht gelogen.” Was er nicht sagt: VW hat nur getan, was im Unternehmens jahrelang als normal galt.
Auch andere deutschen Hersteller wenden Tricks an, um auf dem Papier zu günstigen Emissionswerten zu kommen. Jeder Autofahrer weiß, dass der Verbrauch seines Pkw höher ist als im Prospekt beschrieben. Das Kraftfahrt-Bundesamt, zuständig für die Typgenehmigungen neuer Autos, ist ständig in engem Kontakt mit den Herstellern. Die Behörde hat nicht die Mittel und bis zur Aufdeckung des Dieselskandals auch nicht den politischen Auftrag, Autos effektiv zu überprüfen. Und schon gar nicht fühlen sich die Staatsdiener der Öffentlichkeit verpflichtet. Presseanfragen an das Amt werden nicht beantwortet, telefonische Kontaktaufnahmen barsch abgewimmelt. Erstreiten die Aktivisten von der Deutschen Umwelthilfe DUH die Herausgabe von Papieren, um Herstellerangaben zu überprüfen, bekommen sie seitenweise geschwärzte Dokumente. Die Begründung: Es gehe um Geschäftsgeheimnisse der Industrie. Hersteller, die trotz der industriefreundlichen Haltung des KBA Schwierigkeiten fürchten, reichen neue Modelle in Luxemburg oder Malta zur Zulassung ein. Dort sollen die Prüfer besonders nachlässig arbeiten.
Kein Ingenieur wird etwas ohne die Industrie
Von der Industrie unabhängige Experten sind rar. Womöglich liegt’s an der Ausbildung: Wer beispielsweise wissen will, wo die automobile Elite in Deutschland ihr Handwerk erlernt hat, sollte nach Aachen fahren. Dort, an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, werden Generationen von Führungskräften der Autoindustrie ausgebildet. Ein Entwicklungsinstitut im Dunstkreis der Uni nimmt Aufträge der Autoindustrie entgegen, den Hochschulrat führt Daimler-Aufsichtsrat Bernd Bohr. Auch der Kontakt der Hersteller zu anderen Universitäten ist gut. Über die ganze Republik hinweg unterhalten sie Stiftungslehrstühle. Kaum einer von den Wissenschaftlern, die dort arbeiten, dürfte die Industrie in grundsätzlichen Fragen angreifen.
Auch Prüfinstitute, die auf dem Papier unabhängig sind, wagen es nicht, gegen die Hersteller aufzumucken. Die DUH sucht wiederholt nach deutschen Laboren, die Pkw-Abgasemissionen analysieren sollen, findet aber keines und weicht schließlich auf zwei Auftragnehmer in der Schweiz beziehungsweise Tschechien aus. “Die Einrichtungen haben Angst, keine Aufträge von der Industrie mehr zu erhalten”, sagt Axel Friedrich, der für die Deutsche Umwelthilfe Straßentests durchführt. Jungen Wissenschaftlern, die für die DUH arbeiteten, sei zu verstehen gegeben worden, dass sie sich so für eine Karriere in der Autoindustrie disqualifizierten. Auch das Umweltbundesamt berichtet über Probleme, deutsche Spezialisten mit unabhängigen Auto-Tests zu beauftragen.
Der Tüv, per Definition eine Kontrollinstanz, nimmt von der Autobranche Aufträge entgegen. Beispielsweise beauftragte VW den Tüv Rheinland vor der Jahrtausendwende damit, bei 2600 Zulieferern nachzusehen, ob die Systeme auch nach der Umstellung auf das neue Datum reibunglos funktionieren würden. Auch der ADAC bekommt Geld von den Konzernen. Bleibt ein Autofahrer mit Motorschaden liegen und nimmt er die Mobilitätsgarantie seines Herstellers in Anspruch, schickt der in vielen Fällen den Pannendienst des Clubs.
Jeder profitiert von jedem. Anders als in den USA werden in Europa Erkenntnisse über die gesundheitsgefährdende Wirkung von Stickoxiden ignoriert. Immer wieder demonstrieren zwar Menschen gegen die Schadstoffbelastung, auch vor den Toren von VW. Aber Politiker wie die Paris Bürgermeiserin Anne Hidalgo, die die Kapitale ab 2020 vollständig für Dieselfahrzeuge sperren will, bleiben eine Ausnahmeerscheinung.
Bei Audi und bei Volkswagen forschen sie währenddessen weiter, wie sich das lästige Problem der Grenzwerte umgehen lässt. Aus internen Mails rekonstruiert US-Staatsanwalt Eric Schneiderman später, wie sich die Audi-Chefs über Abgaswerte austauschten. Mit dabei: der heutige VW-Konzernboss Matthias Müller, damals Leiter des Produktmanagements für Audi, Seat und Lamborghini. Irgendwann im Sommer 2006 soll Winterkorn und Müller von ihren Leuten darüber informiert worden seien, dass es Probleme mit den Abgasgrenzwerten gab. Unklar ist, wie und worüber genau sich der Informatiker Müller darüber aufklären ließ, was seine Leute austüftelten. Am Ende greifen Abschalteinrichtungen bei elf Millionen Fahrzeugen in die Motorsteuerung ein.
Per Zufall den Schmu mit dem Diesel bemerkt
Niemand merkt’s – bis Daniel Carder in seinem einfachen Labor die Abgaswerte von VW-Modellen analysiert. Carder ist Professor an der Universität von West Virginia, ein korpulenter, bodenständiger, umgänglicher Kerl. Er arbeitet im Auftrag des gemeinnützigen International Council on Clean Transportation (ICCT), die Untersuchungen führt er zusammen mit zwei Studenten In einem kleinen Labor im Bergort Morgantown in den Appalachen durch. Viel Geld haben sie für ihre Tests nicht, gerade mal 69 000 Dollar.
Zum Beirat des ICCT gehört Axel Friedrich, früher Abteilungsleiter im Umwelt-Bundesamt. Friedrich hat sich als unbeirrbare Nervensäge und Opponent der Autoindustrie einen Namen gemacht. “Wir wollten bei den Tests eigentlich festhalten, das VW in den USA niedrigere Stickoxide schafft als in Europa”, sagt er. Das Ergebnis sollte als Argumentationshilfe für die Forderung nach sauberen Motoren auch in Europa dienen.
Doch als sich Daniel Carder und seine studentischen Assistenten an die Arbeit machen, trauen sie ihren Untersuchungsergebnissen kaum. Die Stickoxid-Werte der untersuchten VW-Motoren liegen so weit über dem gesetzlichen Limit, dass sie nicht mehr durch Besonderheiten der Laborsituation erklärt werden können.
Michael Hausfeld, 70, ist rein äußerlich das genaue Gegenteil des bulligen und hemdsärmeligen Daniel Carder: Klein, schmal, oft mit Fliege zum Anzug. Hausfeld spricht selten laut. Das hat er nicht nötig. Hausfeld erkämpfte Entschädigungszahlungen für ehemalige NS-Zwangsarbeiter und Inuit, deren Fischgründe nach dem Exxon-Valdez-Tankerunglück verseucht waren. Jetzt knüpft er sich von seiner Kanzlei in der repräsentativen Washingtoner K-Street unweit des Weißen Hauses aus Volkswagen vor. Hausfeld will, dass alle – auch die europäischen – Kunden des Herstellers entschädigt werden. Die abwehrende Haltung des Konzerns bezeichnet er als “arrogant”. Damit steht die Forderung nach einem weiteren zweistelligen Milliardenbetrag im Raum. “Wenn dieser Anwalt sich in Europa durchsetzt”, sagt eine VW-Mitarbeiterin Anfang Januar auf der Detroiter Autoshow, “können wir einpacken”.
Die VW-Konkurrenten könnten eigentlich froh über den Sturm sein, der sich über dem Konzern entlädt. Sind sie aber nicht. Sie sind im Gegenteil äußerst nervös, weil sich Umwelt- und Verbraucherschützer daran machen, die Emissionen weiterer Pkw-Modelle zu testen.
Die Deutsche Umwelthilfe DUH wird von der Industrie immer wieder angegriffen. Unter anderem wird der Berliner Rechtsanwalt Christian Schertz im Auftrag von Daimler gegen die Umeltschützer tätig. Der Experte für Medienrecht (“Privat war gestern: Wie Medien und Internet unsere Werte zerstören”) droht: “Sollten Sie weiterhin auch nur irgendwie die Behauptung aufstellen, meine Mandantin habe Abgaswerte manipuliert, werden wir mit aller gebotener Nachhaltigkeit gegen Sie vorgehen.” Der Jurist kündigt Schadenersatzklagen an sowie “rechtliche Schritten”, sollte die DUH die Öffentlichkeit über sein schreiben informieren. Bei einer Pressekonferenz des Verbandes tauchen Juristen und Mitarbeiter von Autoherstellern auf, die die Teilnehmerlisten mit ihren Smartphones fotografieren und jedes Wort per Handy aufnehmen.
Die Hersteller wähnen die Politik und die Behörden auf ihrer Seite. Kurz nach Bekanntwerden des Dieselskandals wendet sich Daimler-Cheflobbyist Eckart von Klaeden, der frühere Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, an Michael Odenwald, Staatssekretär im Verkehrsministerium. In einem Schreiben an die private Mailadresse Odenwalds dringt er auf höhere Grenzwerte. Der Betrug durch VW ist für die Industrie kein Grund, sich mit ihren Forderungen zurückzunehmen.
Wie soll sich Verkehrsminister Dobrindt positionieren? Der CSU-Politiker spielt auf Zeit. Parallel zum Hochschwappen der VW-Affäre beraten die EU-Parlamentarier über neue Messmethoden für Pkw-Abgase, da soll unnötiges Aufsehen vermieden werden. Zwar lässt Dobrindt das Kraftfahrt-Bundesamt nachträgliche Emissionstests durchführen, doch bleiben die Ergebnisse zunächst unter Verschluss. Das Bundesverkehrsministerium reagiert auf Presse-Anfragen, die sich auf die Untersuchung beziehen ähnlich wie das Kraftfahrt-Bundesamt, nämlich vorzugsweise gar nicht.
Im Februar winkt das EU-Parlament die neuen Messmethoden durch, mit großzügigen “Konformitätsklauseln” für die Hersteller. Die Schadstoffe in den Abgasen dürfen ab September 2017 das 2,1-fache des gesetzlich vorgeschriebenen Laborwerts erreichen. Erst Ende April informiert Dobrindt über die Stickoxid-Messungen des KBA, die hohe Abweichungen von der gesetzlichen Norm festellen.
Die EU-Kommission einbeziehen? Beim KBA halten sie nichts davon
Von den (überhöhten) CO2-Werten erfährt die Öffentlichkeit auf offiziellem Wege erst einmal nichts. Auch gegenüber der EU-Kommission gibt sich das KBA äußerst zugeknöpft. Ende Juni geht beim Kraftfahrt-Bundesamt eine Mail von der Generaldirektion Klimaschutz beim Kraftfahrt-Bundesamt ein, die für Nervosität sorgt: Die Behörde habe doch CO2-Werte erhoben, ob man sich nicht einmal treffen und darüber sprechen könne?”
Die Kommunikation über Schmutzschleudern unter der Regie sendungsbewusster EU-Klimaschützer, das ist wahrscheinlich so ungefähr das Letzte, was die Beamten in Deutschland wollen. Ein leitender Mitarbeiter im KBA rät zu äußerster Vorsicht. “Ich denke, dass es prinzipiell schwierig sein wird, vor einer Veröffentlichung des C02-Berichts in einem solchen Gesprach der Kom (der Kommission) zu berichten”, schreibt er in einer internen Mail. “Ich wurde vorschlagen, entweder das Gespräch mit dann vier Parteien durchzuführen und ggf. nur limitierte Information an die Kom zu geben.” Das gewünschte Treffen findet vorerst nicht statt.
Dobrindt und den Herstellern kann das nur recht sein. IG Metall-Chef Jörg Hofmann übrigens auch. Der Gewerkschaftsboss antichambriert im August eigens bei der EU, um laxere Kohlendioxid-Grenzwerte für die Industrie zu fordern. Sein Vorschlag: Ein Grenzwert von 73 Gramm CO2 – aber erst ab 2030.
In Deutschland konstituiert sich im Juli der VW-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Die Abgeordneten sollen klären, wie stark der Einfluss der Industrie auf die Politik ist. In den Unterlagen, die sie bekommen, tun sich große Lücken auf. Als Begründung wird den Parlamentariern unter anderem mitgeteilt, dass die Akten “Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des Unternehmens, die als erheblich für den Wettbewerb innerhalb der Automobilindustrie anzusehen sind”.
Währenddessen ziehen sich die VW-Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig, die auf Weisung des niedersächsischen Justizministeriums arbeitet, hin. Die Politik auf Landes- und Bundesebene scheint Wichtigeres zu tun zu haben, als zu klären, welche Manager wann entschieden haben, Behörden und Kunden zu betrügen.
Erneute Untersuchungen der ICCT enthüllen, dass die Emissionen von Pkw-Motoren, die angeblich der besonders strengen Euro-6-Norm genügen, zum Teil über denen von Lkw liegen. Die Abgase von Lastern werden streng geprüft, die von Autos weiterhin nicht. Eigentlich wären die Messungen der Umweltschützer ein perfekter Anlass, um die Schummelei endgültig zu beenden.
Aber auf eine Konfrontation mit der Autoindustrie will sich im Januar 2017 kein regierender Politiker einlassen. Dieses Jahr wird im Bund gewählt, 2018 in den Autoländern Bayern und Niedersachsen. Was die Automobilproduktion angeht, sind die Politiker froh, über die Zukunft sprechen zu können, die Digitalisierung und die Elektromobilität. Sogar die Grünen gehen auf die Autoindustrie zu. Daimler-Chef Dietrich Zetsche spricht auf dem Grünen-Parteitag in Münster, Partei-Vize Cem Özdemir kommt zur Bundeskonferenz von BMW in Berlin. Man kennt sich, man versucht, miteinander auszukommen.