Hüter der roten Seele: Arbeitsminister Hubertus Heil verspricht viel, kann er’s auch halten?

Jetzt schafft er’s wieder, dass ihm alle applaudieren, selbst die, die eigentlich gegen die Ampelregierung sind. Arbeitsminister Hubertus Heil will Menschen, die in Rente gehen könnten, dazu bewegen, dass sie noch ein wenig länger arbeiten. Natürlich nur freiwillig, natürlich mit Extra-Anreizen. Das sei genau richtig, pflichtet  Stephan Stracke, Rentenexperte der Unions-Bundestagsfraktion dem Minister bei. Schließlich gehe es auch um die Wertschätzung älterer Beschäftigter. Auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner ist im Prinzip für den Plan, will arbeitende Senioren bei den Sozialbeiträgen entlasten.

Brachiale Verzichtsrhetorik verbietet sich beim Thema Renten, obwohl der Spardruck hoch ist. Fast jeder vierte Euro im Bundeshaushalt wird für die Rentenkasse ausgegeben. Es wäre nicht überraschend, würden harte Einschnitte gefordert. Aber 57 Prozent der Bevölkerung sind 40 Jahre und älter, sehen also das Thema Altersvorsorge perspektivisch auf sich zukommen oder beziehen bereits Renten. Mit ihren Ängsten und Wünschen ist nicht zu spaßen, besonders nicht knapp eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl. Deswegen verkniff sich selbst Christian Lindner, ansonsten um keine Partisanen-Aktion gegen die Ampelkoalition verlegen, in letzter Minute doch sein Veto gegen Hubertus Heils aktuelles Rentenpaket. Wirklich dramatische Blessuren sind im parlamentarischen Verfahren nicht zu erwarten. Und Heil kann einen weiteren Haken an seine To-Do-Liste setzen.

Zuhören, Hände schütteln, alle Register ziehen

Während sich die anderen Minister der Ampel öffentlich bekriegen, erledigt Heil, treibt an, verströmt gute Laune oder versucht es zumindest. Heil bei REWE, wo sie ukrainische Geflüchtete einarbeiten. Heil bei einem Spitzentreffen zur Integration eingewanderte Menschen in Brandenburg. Heil auf den Inklusionstagen in Berlin. Nach der Sommerpause will er das nächste Rentenpaket auf den Weg bringen, das Selbstständige mit mehr oder minder sanftem Druck dazu bringt, Beiträge in die gesetzliche Rente einzuzahlen. 

Bei öffentlichen Auftritten gibt er sich bescheiden: „Ich will eigentlich gar nicht so viel erzählen, sondern Ihnen zuhören“, beteuert er gerne. Beispielsweise auf dem Fachkräftekongress Ende Februar, wo er sich unter anderem mit ausgewählten Azubis und jungen Berufstätigen unterhielt. Ob ihm seine Gesprächspartner sagen könnten, „wie wir mehr Jugendliche für eine Berufsausbildung gewinnen können?“ Nach dem Termin eine kurze Zigarette, dann der nächste Austausch mit Praktikern. Heil wirkt etwas weniger füllig als vor ein paar Monaten. „Hubi hat immer vor Wahlkämpfen abgenommen“, erinnert sich ein Weggefährte. Auf welchen Wettbewerb stellt sich Heil gerade ein? 

Zu tun hat er, keine Frage. Die Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme sind allein wegen der Alterung der Gesellschaft enorm. Deutschlands Wirtschaft gehen die Beschäftigten aus. Das Gejammer darüber kennt man seit Jahren, aber sich daran zu gewöhnen, das darf sich ein Arbeitsminister nicht leisten. „Wenn wir nicht alle Register ziehen“, sagt Heil, „dann wird dieses Problem nicht nur nicht größer, sondern unbeherrschbar.“

Zäher Gegner für die FDP

Also zieht Heil alle Register. Er gibt den Mutmacher, mit Ansagen, die je nach Sichtweise wahnwitzig oder wegweisend sind.  „Bis 2035 müssen wir sieben Millionen Fachkräfte ersetzen!“, fordert er. Wenn beispielsweise Frauen mit Teilzeitstellen nur zehn Prozent mehr arbeiten würden, „entspräche dies einem Plus von 400.000 Fachkräften“. Das hätten doch die skandinavischen Länder auch geschafft! Menschen mit Behinderung, Menschen über 60, junge Erwachsene ohne Schulabschluss – alle müssten integriert werden, wenn nicht heute, dann doch allerspätestens morgen. Dazu die Einwanderer: Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat Heil einige bürokratische Hürden abgeräumt, worauf wartet die Republik eigentlich noch? Jährlich netto 400.000 qualifizierte Menschen aus dem Ausland bräuchten wir schon, heißt es. Was Heil sagt, erinnert an die 1960er und 1970er Jahre, als Zuwanderer aus Süd- und Südosteuropa steile Zuwachsraten in der Produktion ermöglichten. 

Der Niedersachse ist der einzige Ressortchef, der seinen Regierungsjob aus der Merkel-Zeit in die vermutlich kurze Ampel-Ära gerettet hat. Seit sechs Jahren hat er im Sinn seiner Partei Pflöcke eingerammt: Sein erstes  Rentenpaket, beschlossen 2018, zog für die Zeit bis 2025 eine Haltelinie von 48 Prozent für die Renten ein. Das bedeutet: Wer 45 Jahre lang zum Durchschnittslohn gearbeitet und in die Rentenkasse eingezahlt hat, bekommt 48 Prozent des aktuellen Durchschnittslohns als Rente. Das ist nicht berauschend viel, aber mehr als die bis 2018 geltende Garantie (43 Prozent bis 2030). Zwei Jahre nach dem ersten Rentenpakte drückte Heil außerdem die Grundrente durch. Sie bessert die Bezüge von 1,3 Millionen Menschen mit Minirenten auf. Jetzt folgt das zweite Rentenpaket. Die 48-Prozent-Haltelinie soll bis 2039  gelten. Eine Erhöhung der Regelaltersgrenze von jetzt 67 Jahren – „wird es mit mir nicht geben“, sagt Heil. Den Aufbau einer Aktienrente, gespeist aus Beitragsgeldern? Auch diesen Zahn hat er den Liberalen gezogen. Statt dessen heißt der zusätzliche Finanzierungsbaustein jetzt „Generationenkapital“ und wird mit Krediten finanziert. Das könnte man auch als das Gegenteil dessen erklären, wofür die FDP gekämpft hat. 

Der freundliche Herr vom Arbeitsamt

Der Minister gilt als einer, der zäh und geräuschlos verhandelt. Er selbst würde das vermutlich anders formulieren. Beispielsweise mit einem staatstragenden Zitat von Helmut Schmidt: „Das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss, und wer für den Kompromiss nicht taugt, taugt nicht für die Politik.“ Klingt sonor. Gibt es auch Heils Wesen wieder? Irgendwie bekommt er es jedenfalls hin, dass die Zahl derer, die laut über ihn lästern, gering ist. Ziemlich offensiv pflegt er seine Anschlussfähigkeit gegenüber Konservativen und Liberalen. Er beteiligt sich an Gedankenspielen zu einer Arbeitspflicht für Asylbewerber oder kündigt an, Leistungsverweigerer unter den Bürgergeld-Empfängern konsequent zu sanktionieren. 

Manchmal wirkt Heil dann wieder wie ein hilfsbereiter, enthusiastischer Mitarbeiter eines Arbeitsamtes. Einer, der sich wirklich Gedanken um seine Schützlinge macht. Einer, der auch am Wochenende Mails beantwortet und zur Not einen Arbeitssuchenden persönlich zu einem Vorstellungsgespräch begleitet. Einer, der andere mitreißt. Aber wie belastbar sind seine Versprechen?

Die 48-Prozent-Ansage jedenfalls ist mutig. Denn ab 2025 drängen die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Im Jahr 2030, rechnet das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft IW aus, müssen 100 Beitragszahler für 67, 2050 sogar für 77 Rentner sorgen. Die Beamten des Arbeitsministeriums rechnen bereits mit einem Anstieg der Rentenbeiträge auf 22,3 Prozent bis 2035. Auch der Bundeszuschuss für die Rentenkasse wird demnach anwachsen, allerdings nur um gut sieben Milliarden Euro. 

Und was ist eigentlich nach 2039? Steigt dann der Beitragssatz weiter, oder muss die Regierung ihr Rentenversprechen dann doch noch kappen?  Es geht schon, wenn man es richtig anpackt, heißt es bei der SPD.“ Die Zukunft der Rente wird auf dem Arbeitsmarkt entschieden“, erklärt Martin Rosemann, sozialpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Wer’s nicht glaubt, dem konjugiert Heil die sozialdemokratische Erfolgsformel für andauernden Wohlstand gerne vor. Warum denn die Lage der Rentenkasse aktuell besser sei als vor Jahren vorhergesagt? „Zurzeit sind so viele Menschen in Arbeit wie nie zuvor“, verkündet der Minister. „Über 46 Millionen!“

„Ich bin von Natur aus optimistisch“

Ausgerechnet Bernd Fitzenberger, der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, widerspricht der Heil’schen Zuversicht. „Jedes Jahr unterm Strich 400.000 neue Arbeitskräfte aus dem Ausland zu gewinnen, das lässt sich nicht eins zu eins erreichen“, sagt er. Der demographische Wandel treffe nicht nur Deutschland. „Zum Teil ist in anderen Ländern Europas der Anteil der Senioren an der Bevölkerung noch höher als bei uns.“Auch das Potential im Inland, etwa unter Müttern und Älteren, sei nicht unbegrenzt. 

Klingt ganz schön miesepetrig. Heil scheinen Einwände nicht anzufechten.  „Ich bin von Natur aus ein optimistischer Mensch“, verkündet er. Sein eigener Aufstieg gibt ihm ja auch genügend Grund dafür. Aufgewachsen ist er in einem Mittelverdiener-Haushalt im Kreis Peine. Der Vater verließ die Mutter samt ihrer zwei Söhne, als Heil klein war, und zahlte keinen Unterhalt. Aus einem Häuschen im Vorort zogen sie gezwungenermaßen in eine Hochhaussiedlung. Die Mutter ging Vollzeit arbeiten. Annehmlichkeiten, die für andere Familien selbstverständlich waren, mussten sich die drei verkneifen.

„Der atmet Machtwille aus jeder Pore“

Seinen Weg gemacht hat er trotzdem. Schon als  16-Jähriger wurde Heil Sozialdemokrat. Auf dem Schulhof trat er ziemlich selbstbewusst auf, erinnert sich ein Mitschüler. Überraschend war aber, wie schnell Heil Verantwortung übernahm. Eva Schlaugat, damals Ortsvereinsvorsitzende und Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vor Ort machte den 21-Jährigen zu ihrem Wahlkampfmanager. Mit nur 25 Jahren erkämpfte sich Heil sein eigenes Direktmandat für den Bundestag. Es folgten unter anderem  zwei halbwegs erfolgreiche Amtszeiten als Generalsekretär bis zum Mitglied der Regierung. In Berlin pflegt er heute diskret ein Netzwerk von Politikern, auch aus anderen Parteien. Berührungsängste sind ihm fremd. Im direkten Kontakt wirkt er freundlich, zugewandt, kann zuhören. 

Könnte der nicht noch mehr? 

Kann er wahrscheinlich nicht, wenn man sich die aktuellen Umfragewerte der SPD ansieht. Der Niedergang der Partei in der Wählergunst schrumpft derzeit eine ganze Reihe persönlicher Karrierepläne, auch die eines Hubertus Heil. Den Parlamentariern des Netzwerks, einer von Heil mitgegründeten Seilschaft von Pragmatikern in der SPD, hat man immer unterstellt, dass es nicht um die Sache, sondern nur um gute Posten gehe. „Heil findet sich penetrant unentbehrlich“, sagt ein Sozialdemokrat, der ihn gut kennt. „Er atmet den Machtwillen aus jeder Pore.“ 

Das ist ein wenig fies, denn was wäre ein Politiker, wenn er nicht auch Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten wollte? Aber jetzt schwindet die Macht, und es schwinden im Bund für viele Sozialdemokraten die Perspektiven. „Hör‘ nach zwei Legislaturperioden auf“, rietihm Eva Schlaugat einmal. „Kette dich nicht an dein Mandat.“ Vielleicht wird sich Heil in eineinhalb Jahren an ihre Worte erinnern. 

Noch ist es ja nicht so weit. Aktuell demonstriert er Angriffslust. „Ich weiß, dass Politik nicht allein über den Kopf funktioniert“, sagt er. Unter anderem will er jetzt „ein bisschen härter“ gegen rechtslastige Botschaften angehen. Sagt’s und ergänzt mit einem ironischen Augenzwinkern: „ähnlich emotional wie der Bundeskanzler“. 


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